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4 Mythen zu chronischen Schmerzen

WISSEN & GESUNDHEIT

Dr. Florian Treffler, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin und leitender Oberarzt der Caspar Clinic, arbeitete fünf Jahre in der
stationären multimodalen Schmerztherapie. Er sammelte dort Erfahrungen in der Behandlung von Patient*innen mit chronischen Schmerzen – Durch Aktivierung, Motivation und Begleitung.

Doch was sind chronische Schmerzen überhaupt? Schulmedizinisch wird ein Schmerz als chronisch eingestuft, wenn er seit mindestens drei Monaten
anhält und/oder die normale Schmerzdauer einer Erkrankung deutlich übersteigt. Die Deutsche Schmerzgesellschaft gestaltet den Begriff offener. Sie betrachtet chronische Schmerzen als eigenständige Krankheit. Wichtig ist, dass Betroffene durch die Anerkennung als Krankheitsbild leichter Unterstützung und professionelle Hilfe bekommen können.

MYTHOS 1

Chronische Schmerzen haben immer eine körperliche Ursache
Nein, man kann auch Schmerzen empfinden, obwohl trotz vieler Untersuchungen kein körperlicher Befund identifiziert werden kann, der das Schmerzerleben ausreichend erklärt. In vielen Fällen gab es zunächst ein auslösendes körperliches Ereignis, etwa einen Unfall, eine Operation oder erstmals radiologisch festgestellte
Abnutzungserscheinungen. Ob daraus chronische Schmerzen entstehen, hängt stark von den Bewältigungsstrategien der Person ab. Die individuelle Krank-
heitsbewältigung ist wiederum stark mit unseren Lebensumständen wie Stress, familiären oder beruflichen Belastungen, traumatischen Erfahrungen oder
bestehenden psychischen Erkrankungen verknüpft. Man spricht dann von psychosozialen Einflussfaktoren, die einen Schmerz aufrechterhalten oder verstärken können. In solchen Situationen helfen Motivation, multiprofessionelle Begleitung und der Aufbau neuer Perspektiven.

MYTHOS 2

Alle chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten werden depressiv
Das ist so nicht richtig. Aber dass Schmerz unsere Stimmung negativ beeinflussen kann, leuchtet ein. Viele Betroffene wissen jedoch anfangs nicht, wie stark Körper
und Psyche zusammenwirken. Belastet durch lange Phasen mit ständigen Schmerzen sowie der Angst, ob die Schmerzen jemals wieder verschwinden, nehmen Patient*innen im Verlauf meist eine zunehmend psychische Belastung wahr. Bei Betroffenen können im Verlauf depressive Verstimmungen bis hin zu einer manifestierten Depression auftreten. Es ist jedoch nicht immer eindeutig, ob diese durch den Schmerz entstehen oder bereits vorher bestanden und durch den Schmerz nur verstärkt werden. Eine professionelle psychologische Begleitung kann dann – neben der gezielten körperlichen Behandlung – eine sehr wichtige Unterstützung sein.

MYTHOS 3

Nur Medikamente helfen bei chronischen Schmerzen
Viele glauben, dass Medikamente, eine Operation oder andere passive Behandlungen die einzige Lösung in ihrer Situation sind. Sie hoffen, dass Therapeut*innen und Ärzt*innen „etwas tun können“, um die Schmerzen zu beseitigen. Tatsächlich können Operationen oder Medikamente einen essentiellen Teil einer Behandlung darstellen. Doch passive Maßnahmen allein sind nie der richtige Weg – vor allem nicht langfristig. Ein an die Erkrankung angepasster Lebensstil ist ebenso entscheidend für einen langfristigen Behandlungserfolg. Bewegung, gesündere Ernährung, Stressmanagement, Entspannungstechniken und Achtsamkeitstraining sind nur einige von vielen Möglichkeiten, wie man das
körperliche Befinden verbessern kann. Diese Methoden erfordern Eigeninitiative, stärken aber auch das Gefühl, aktiv etwas bewirken zu können. Wer erste Erfolge
spürt, schöpft meist neue Motivation. Das steigert das Selbstwirksamkeitserleben und wirkt dem Gefühl eines Kontrollverlustes entgegen.

MYTHOS 4

Chronische Schmerzen führen immer in einen Teufelskreis
Nein, nicht immer. Aber eine Chronifizierung kann begünstigt werden, wenn zu den primären Belastungsfaktoren weitere Faktoren hinzukommen. Schlafprobleme,
Bewegungsmangel oder sozialer Rückzug können eine Folge der Schmerzerkrankung sein. Betroffene haben zunehmend das Gefühl, dass ihr Körper nicht mehr richtig funktioniert bzw. ihnen die Kontrolle über ihr Leben entgleitet. Wenn Schmerzen im Alltag nicht beeinflusst werden können, entsteht schnell das Gefühl von Kontrollverlust. Doch gerade weil viele Faktoren eine Rolle
spielen, lassen sich auch viele Ansätze finden, die langfristig das Krankheitserleben positiv beeinflussen. Wichtig ist die Begleitung durch ein Behandlerteam, das die Betroffenen darin bestärkt, dass sie dem Schmerz nicht machtlos ausgeliefert sind.